Niemand singt mehr tralala, die ganze Welt ist nicht verhext, aber mit Menschen überflutet.
Ich war ja nur auf der Suche nach einer Tagesherausforderung am Berg. Das Schilthorn war schon länger Kandidat, spätestens aber, seit ich mit Lukas daran vorbeigeflogen bin (Flug in der AT-6A). 1’358 Höhenmeter stellten sicher, dass es kein Spaziergang werden würde. Ich wählte eine Route, auf der ich wenig Verkehr erwartete, nicht über Allmihubel und Schilthornhütte, sondern über die Schiltalp direkt zum Grauseeli. Die Wahl war goldrichtig, auf dem ganzen Weg kamen mir vier Leute entgegen und weitere vier überholte ich im letzten Viertel. Aber sonst…
Damit spannt sich auch der Bogen zum Titel. Nein, eine Veronika war nicht mit von der Partie, aber eine bessere Allegorie zu Ambivalenz fand ich nicht. Aber um welche Ambivalenz geht es denn überhaupt?
Übertourismus (Overtourism) im Berner Oberland
Natürlich nicht nur da. Das ist zum Phänomen aller Touristen-Hotspots weltweit geworden. Als 1969 der James-Bond-Film «Im Geheimdienst Ihrer Majestät» (On Her Majesty’s Secret Service) teilweise auf dem Schilthorn gedreht wurde, war das noch kein Thema (im Film dient das Drehrestaurant Piz Gloria als Kulisse für das fiktive Hauptquartier des Bösewichts Blofeld).
Als regelmässige Aufenthalter in Interlaken ist uns diese Entwicklung auch aufgefallen. Ostasiaten und Araber prägen das Strassenbild. Offenbar hat die Entwicklung aber inzwischen ein Ausmass erreicht, das für – mindestens einen Teil – der Einheimischen nahezu unerträglich ist. Das ist auch Thema der Rundschau vom 22. August 2024, in der es unter anderem um die Umnutzung von Wohnraum in Ferienwohnungen in Interlaken und jetzt eine Intiative für eine Einschränkung von Airbnb geht. Auch der Massentourismus in Grindelwald ist ein Thema, insbesondere im Zusammenhang mit den Ausbauplänen der Jungfraubahnen, gegen die sich Widerstand regt (Tourismus am Limit – Wenn die Einheimischen die Nase voll haben).
Und damit sind wir bei der Ambivalenz angelangt: Man lebt zwar gut vom Tourismus und ist auf eine funktionierende Infrastruktur angewiesen, aber eigentlich möchte man nicht noch mehr Leute und Verkehr in den Dörfern und Bahnen, vor allem nicht noch mehr «Blitzbesuche».
So, bevor ich jetzt zum wirklichen Thema komme, hier noch der Link zum Schlager der 1920er Jahre, dessen Melodie Walter Jurmann komponierte. Der Text stammt von Fritz Rotter und basiert auf einem Gedicht von Otto Licht. Veronika, der Lenz ist da.
Ersatzprogramm?
Also das Lauterbrunnental liegt ja von Schaffhausen aus nicht gleich um die Ecke. Aus Bequemlichkeit entschied ich mich für die zweite Verbindung um 06:17, weil man da einmal weniger umsteigen musste.
Das Perron in Interlaken für den Zug nach Lauterbrunnen war ziemlich voll. Wegen einer Stellwerkstörung fuhren aber zwischen Interlaken und Lauterbrunnen für unbestimmte Zeit keine Züge mehr. Na toll. Vielleicht hätte es mit der früheren Verbindung noch gereicht. Aber hätte, würde, wäre – es nützt alles nichts. Ich machte mit bereits Gedanken über ein Ersatzprogramm, einfach, um nicht unverrichter Dinge wieder heimfahren zu müssen.
Auf dem Bahnhofplatz von Interlaken Ost standen bereits Ersatzbusse bereit, aber die Chauffeure hatten keinen Plan, ob und wann sie denn fahren würden. Da inzwischen der Zug eingefahren war, schien die Störung behoben zu sein. Mit 35 Minuten Verspätung ging es in einem proppenvollen Zug los.
In Wilderswil wollten weitere Menschenmassen zusteigen. Hätte ich gewusst, dass die Ersatzbusse trotzdem fuhren, dann hätte ich auf die Strasse gesetzt: In Zweilütschinen überholten uns die Busse und konnten ungehindert weiterfahren, während wir auf den Gegenzug warten mussten.
Um nach Mürren zu gelangen, hatte ich mir die Route über Stechelberg ausgesucht, weil ich die Bahnverbindung von der Gütschalp nach Mürren als ziemlich langsam in Erinnerung hatte. Wenistens hatte ich mir das Ticket bereits am Vortag online besorgt, so musste ich nicht in der Schlange vor dem Schalter anstehen. Und die Schlange war lang. Und der Parkplatz bei der Talstation: Mindestens zwei bis drei Fussballfelder gross und voll mit Autos und Wohnmobilen aus ganz Europa.
Endlich Luft
Noch zweimal Gedränge und dann war ich endlich am Ausgangspunkt der Tour. Mit inzwischen 45 Minuten Verspätung marschierte ich von Mürren Richtung Schiltalp los.
Na ja, einerseits ersäuft man ja bereits heute in den Menschenmassen, was man ja eigentlich eindämmen möchte, und gleichzeitig baut man die Kapazitäten aus.
Normalerweise teile ich mir meine Hikes beim Start etwas ein: Erste Rast an einem bestimmten Ort, nach einer oder zu einer bestimmten Zeit. Nach dem Start um 10:48 Uhr in Mürren wollte ich mir um die Mittagszeit eine Pause gönnen. Beim Bild oben war es bereits 12:06 Uhr und es lief gerade gut, also warum auch anhalten? Dass ich am Schluss, mit ein paar Fotohalten zwar, aber ohne Pause bis zum Gipfel durchmarschierte, war nicht aussergewöhnlich, machte mir aber bewusst, warum ich auf solchen Touren gerne alleine unterwegs bin: Mein Tempo, meine Etappen, mein Rhythmus.
Den Zug in Lauterbrunnen verpasste ich um fünf Minuten. Bis dann der nächste Richtung Interlaken abfuhr, füllte sich das Perron wieder beinahe zum Platzen, weil inzwischen auch die Leute aus Wengen eingetroffen war. Wenigstens klappten diesmal alle Anschlüsse. In Interlaken stand der IC81 nach Romanshorn bereit, also musste ich erst in Zürich wieder umsteigen. Um 19 Uhr war ich wieder zuhause und genehmigte mir nach einer erfrischenden Aussendusche auch noch ein Weizenbier.